Schatten einer Wiederkehr

Diese Erzählung habe ich 2020 verfasst: Sie beschreibt einen Teil der Reise ins südliche Litauen im Sommer 2018, die ich zu diesem Zeitpunkt schon lange hatte machen wollen: Seit ich ein Grundschulmädchen war und zufällig im Gespräch von meinem Vater erfuhr, er sei in Seirija, Alytus geboren.

Das klang so zauberhaft fremd, auf der Landkarte schien dieser Ort nur eine Wegkreuzung zu sein. Mein Großvater hatte dort eine Schmiedewerkstatt gehabt.

Mehr hatte mein Vater aber nicht zu erzählen. Seinem älteren Bruder, den ich eigens aufsuchte, waren nur ein paar Worte über den kargen Alltag seiner Kindheit zu entlocken, über die Herkunft der Familie erfuhr ich nichts von ihm. Schließlich fielen seiner älteren Schwester doch noch die Sonntagsausflüge mit dem Pferdefuhrwerk zu einem nahegelegenen See ein.

Der gewählte Ausschnitt beginnt mit der Ankunft in der Hauptstadt Vilnius:

(…)  Auf der Fahrt vom Flughafen in Vilnius zu unserem Quartier am anderen Ende der Stadt beäugten wir ungläubig das Auseinanderfallen der Hauptstadt in die Gesichter ihrer Geschichte: Baufällige Holzhäuser, die kaum Wasser und Strom zu haben schienen, standen neben vielstöckigen, ergrauten Plattenbauten – vor einem der größten hielt unser Bus. Beim Haltestellenschild mit der schäbigen Bank lungerten Männer mit geröteten, wächsernen Gesichtern herum, sichtlich benommen und ungewissen Alters – Automatisch steuerten wir auf unseren Vermieter am Aufgang des Plattenbaus zu, er geleitete uns in die Eingangshalle aus nacktem, abgeschlagenen Beton, die mich an einen Heizungskeller erinnerte, sämtliche Briefkästen zerbeult und aufgebrochen, alles mit Brandflecken übersäht. Mit flauem Gefühl betraten wir den engen Fahrstuhl, dessen Teppichverkleidung süßlich-muffigen Geruch ausdampfte, wechselten nervöse Blicke. Oben angekommen hatten wir Mühe, die schwere Stahltür zum Stockwerkflur aufzuzwängen, ein winziges Fenster ganz am Ende des Ganges ließ uns die Umrisse von alten Möbeln und Gerümpel erkennen – an dem vorbei wir uns zur Tür unserer Unterkunft vortasteten – verblüfft betraten wir das helle und modern eingerichtete Appartement: Wir schlossen fest hinter uns zu.

Tags darauf wollte ich ins KGB-Museum, „ein Schlüssel zum Verständnis von Litauen“, behauptete der Reiseführer – mein Freund vermutete dagegen eine Ansammlung von Ost-Kitsch – Tatsächlich betraten wir einen unterirdisch weit verzweigten Kerker und Folterkeller, mit einem Hinrichtungsraum, dessen Boden so gebaut war, dass das Blut der Erschossenen gleich in die Kanalisation fließen konnte – im Herzen der Stadt, gerade eine Zimmerdecke breit unterhalb eines belebten Boulevards und mitten im Regierungsviertel. Ich verharrte vor einzelnen Schautafeln über die Gräueltaten sowjetischer und nationalsozialistischer Schergen, die einander abgelöst hatten, diese Stätte für die gleichen Zwecke zu nutzen. Vergleichsweise kurz nur die Nationalsozialisten – Irritiert stellte ich fest, dass sie hinsichtlich der andauernden Repression Litauens eine untergeordnete Rolle spielten. Wieder und wieder las ich – vergeblich: War überhaupt etwas zu verstehen am skrupellosen Vorgehen der sowjetischen und nationalsozialistischen Machthaber? Außer dass sie sich auch derselben Mittel bedient hatten, Angst und Geltungsdrang williger Handlanger in der Bevölkerung ausgenutzt hatten, um Missgunst, Gier bis hin zu blanker Mordlust zu schüren. –

Benommen taumelten wir durch die Hitze der Stadt. Sahen die torkelnden Gestalten in den Straßen, kaputte, kranke Männer, allmählich mit anderen Augen. Unsere Blicke verfingen sich in Netzen, die unter den Balkonen früherer Prunkbauten befestigt waren. In denen sich Putz- und Steinbrocken sammelten, vom Korpus der Balkone abgebröckelt, die Sanierung wohl zu kostspielig, der Abriss auch – und die Netze der einzig leistbare Aufwand, damit der marode gewordene Prunk der alten Zeiten den heutigen Passanten nicht auch noch auf den Kopf fiel.

Vilnius | Anja Sturmat

Wir stießen auf einen Kühle spendenden Park, der bergan auf einen Hügel führte, und wie alle Straßen außerhalb des Altstadtkerns merkwürdig verlassen wirkte. Oben am Scheitel thronte ein pompöser neoklassizistischer Bau, die Frontfassade mit überdimensionalen Säulen herausgeputzt, aber ansonsten verwaist und verriegelt, kaputte Fensterscheiben und riesige Graffitis sogar über den Säulen:

Ein vermodernder Dinosaurier, der die gedrückte Stimmung des unterirdischen KGB-Kerkers fortsetzte, die uns noch immer nachhing, am helllichten Tag, im grünen Park und in bester Lage.

Noch am selben Abend erfragten wir von Kestutis, einem Künstler, die Hintergründe dieses merkwürdigen Verfalls: Ach, der Kulturpalast der Gewerkschaft, das sei ein Repräsentationsbau der sowjetischen Besatzung, damit wollten die Leute nichts mehr zu tun haben! Seien heilfroh über die Unabhängigkeit des Landes und fürchteten nichts mehr als einen erneuten Aufmarsch sowjetischer Panzer –

Erst reserviert, fast skeptisch ließ er uns dann doch teilhaben an seinem eigenen Ringen mit der Geschichte des Landes: Seine umfangreichste und persönlichste Arbeit, die Diaries of Death – ganz im Gegensatz zu den farbenfrohen Druckgrafiken, die er uns zuerst gezeigt hatte – stellte Registrierfotos von unter sowjetischer Besatzung Ermordeten zusammen, die er in jahrelanger Recherche aus Archiven geborgen und mit kurzen Biografien versehen hatte. Kestutis zeigte uns Abbildungen seiner Installationen in einem Ausstellungskatalog: In düsterem Schwarzweiß und in Lebensgröße baumelten die Gesichter dicht gedrängt von der Decke und füllten den Raum so sehr aus, dass mir allein beim Betrachten der Abbildungen die Luft weg blieb.

Schrecken, deren Nachklang ich auf einmal in Kestutis‘ ganzem Habitus zu vernehmen glaubte, sein An-Arbeiten gegen Melancholie und Resignation – und aufs neue traf mich ein Fakt, auf den ich bei meinen Vorerkundungen gestoßen war: Dass Litauen das Land mit der höchsten Selbstmordrate Europas ist …

(…)

Tatsächlich bestand Seirija aus nicht viel mehr als einer Wegkreuzung und einem einzeln da stehenden Ortsschild.

Seirija | Anja Sturmat

Erst dann kamen Holzhäuser, mit verblasstem Anstrich, verwittert, oft baufällig – an einer langgezogenen breiten Straße, die bis zur tatsächlich noch existierenden evangelischen Kirche leicht bergab führte. Nach der ersten Durchfahrt im Schritttempo – wir waren das einzige Auto weit und breit – hielten wir Ausschau nach einer Unterkunft. Und im Nachhinein wunderten wir uns beide über den Wunsch, unbedingt direkt hier in Seirija übernachten zu wollen. Mein Freund hatte damit angefangen, ich empfand zuerst einen mir selbst unerklärlichen Widerstand dagegen. Gab ihm aber schließlich recht: natürlich musste das so sein! Hier war das Zentrum unserer Reise. Unser Zielpunkt.  –

Wir wären beinahe ein zweites Mal dran vorbeigefahren, als wir die einzige Herberge entdeckten und uns dort für die nächsten Tage einmieten konnten – zwei ausladende Betten in dunklem Holz standen im Zimmer, die Gänge dorthin mit rotem Teppich, Spiegeln und Marmor ausstaffiert, und angesichts der Bescheidenheit der örtlichen Behausungen geradezu luxuriös – aber glanzlos geworden.

Am Abend machten wir uns zu Fuß auf den Weg durch Seirija, immer noch schwitzten wir in diesem heißen Sommer, der alle überraschte. Fanden hinter den Zeilen der Holzhäuser lauter kleine Friedhöfe und Gedenktafeln, es schien hier mehr tote als lebende Bewohner zu geben –

Seirija | Anja Sturmat

Und auf einmal saßen wir neben einem alten Mann, auf der Bank vor seinem kargen Haus, und hatten keine gemeinsame Sprache. Er hatte uns lächelnd zu sich herangewunken, als er meine verstohlen neugierigen Blicke bemerkte, auf seinen Schuppen, an dessen schmalem Vordach Schmiedewerkzeuge aufgehängt waren.

Wir waren schon ein Stück weitergegangen, an seinem Grundstück vorbei, als ich noch einmal hatte umkehren müssen und genauer schauen. Am liebsten hätte ich alle alten Werkzeuge in die Hände genommen – plötzlich war ich beflügelt von dem Gedanken, dies könnte die Werkstatt meines Großvaters gewesen sein! Genau hier könnte sie gestanden haben!

(…)

Zwei Tage zuvor hatten wir Giedrius im Bezirksmuseum von Alytus kennengelernt, er war dort Historiker und schlug uns anlässlich einer Exkursion, die ihn ausgerechnet nach Seirija führte, ein Treffen dort vor:

Schon von weitem sahen wir knapp zwanzig Leute im Kreis auf der Grasfläche vor dem kleinen Einkaufsmarkt gegenüber der Kirche sitzen, mit von sich gestreckten Beinen, die meisten trugen klobige Wanderstiefel. Von Giedrius erfuhren wir, dass die Gruppe seit den Morgenstunden bei sengender Hitze einen Parcours von über zwanzig Kilometern rund um Seirija abgegangen war. Versucht hatte, vor Jahrzehnten in die Erde gegrabene Unterschlüpfe der Waldbrüder ausfindig zu machen, die sich nach dem Krieg für die Unabhängigkeit Litauens eingesetzt hatten – Partisanen, wie sie uns schon im KGB-Museum und in den Arbeiten von Kestutis begegnet waren –

Für Giedrius war klar, dass wir den ehemaligen deutschen Friedhof finden wollten – und während wir uns mit drei weiteren Mitgliedern der Gruppe auf den Weg machten, begann es heftig in mir zu arbeiten: Deutscher Friedhof … ?! – Jäh verdichteten sich die Ahnungen der letzten Tage zu Gewissheiten: Die evangelische Gemeinde zu Zeiten meiner Großmutter, als sonntags die Leute aus allen Himmelsrichtungen zum Gottesdienst gefahren kamen, das waren keine Litauer gewesen, sondern allesamt Deutsche! Die ganze Gemeinde war erst im 17. Jahrhundert entstanden, wie ich in einem kurzen historischen Abriss gelesen hatte, den Giedrius mir zum Treffen in Seirija vorausgeschickt hatte: Ein mit Litauen verbandelter preußischer Herzog hatte seinen Hofstaat, Militär, Handwerker und einige fromme Christen in Seirija angesiedelt. Diese deutsche Gemeinde hatte dann Nazideutschland als Rechtfertigung gedient, um Anspruch auf den Süden des Landes zu erheben. Und kaum war die deutsche Gemeinde meiner Großeltern samt ihren Kindern wenig später „heim“ geholt worden, machten deutsche Bomber Seirija dem Erdboden gleich. Das hatte ich schon im KGB-Museum gelesen – mich aber geweigert zu begreifen, was wirklich geschehen war. –

Schlagartig war mir bewusst, dass wir aus der Zeit meines Großvaters nur noch Friedhöfe würden finden können – ungläubig schaute ich auf die sattgrüne, leicht wellige Landschaft um mich herum – und durch sie hindurch: Bilder verkohlter, staubiger Erde blitzten auf, ich lief auf einem Schotterweg, und wusste für einen Moment gar nicht mehr, wie ich dort hingekommen war – ein ganzes Stück vor mir Giedrius, die anderen, mein Freund, ich lief schneller, um aufzuholen, sammelte mich …

Wir mussten lange suchen, denn auch Giedrius war nie zuvor am deutschen Friedhof gewesen, zum Glück war unter den anderen dreien ein versierter Kartograph, der uns alle schließlich mit GPS und zum Teil uralten Karten zu einem verwilderten kleinen Hügel lotste. Nur aus unmittelbarer Nähe waren zwischen dichten Grasbüscheln umgestürzte, in die Erde eingesunkene und gebrochene Grabsteine zu entdecken, gerade noch konnten wir ‚Köster‘ und ‚Lamprecht‘ darauf entziffern, gestorben ‚1941‘ – Ich kniete auf der klumpigen Grasnarbe, wandte mich ab – mir kamen die Tränen – wem aber galten sie, fragte ich mich verlegen – legte ich meine Empfindungen in ein fremdes Schicksal hinein … ? War ich dabei, ein mir nicht zugehöriges Leid zu vereinnahmen? – Oder spannen meine Tränen eine Verbindung zu etwas noch nicht näher bestimmtem Fremden?  –

Außer uns war wohl auf diesem Friedhof seit Jahrzehnten niemand mehr gewesen, alle Angehörigen waren weit weggegangen.

Deutscher Friedhof | Anja Sturmat

Ich wünschte mich zurück zum Obelja-See, ich würde schwimmen, immer weiter hinaus, in einem Dickicht aus Seerosen verschwinden –

Wir stapften noch ein wenig von Grabstein zu Grabstein, rieben Staub und Erde von Buchstabenresten, die Namen blieben weitgehend unlesbar. Ich konnte nichts mehr denken. Es war, als würde ich in einem Ballon aufsteigen, mich langsam immer weiter von diesem Friedhof und von Seirija entfernen –

(…)