Sorgfältig aufbewahrt

Motive aus dem Leben meiner Mutter

Gisela Sturmat, 1953 | Anja Sturmat | Foto Birkner in Caputh

Zugang

Würde ich das Leben meiner Mutter mit einer Zeichnung beschreiben, dann wären es Kreise, die ich zeichnen würde, viele Kreise, die sich überlappen, aber auseinanderstreben, als würden sie sich voneinander abstoßen. Vielleicht aber müssten sich diese Kreise wie auf einer Wasseroberfläche gleich wieder auflösen, als hätte ich das, was sie erzählt – so kommt es mir manchmal vor – nur geträumt. Von Dauer scheint nur ihr fest umrissenes Hausfrauen-Dasein, in dem wir sie alle zu kennen meinten, wo es für jedes Problem eine Lösung geben musste: Eine Klarsichthülle, eine Schublade, ein Vitrinenschrank.

Ihr Leben ließe sich vielleicht anhand von Gegenständen erzählen, die sie begleiten. Sie geht mit allen Dingen sorgsam um, so dass Vieles nach Jahrzehnten noch wie neu ausschaut, unbeschädigt, gepflegt. Das Haus, in dem sie mit meinem Vater bis zum Schluss wohnt, strahlt diese stille Sorgfalt aus, nach ihrem Tod umfängt es mich schmeichelnd mit seinen hellen Teppichen, die vielen kleinen Zimmer versprechen Rückzugsorte. Ich schließe eine der lackierten Holztüren hinter mir, höre nur noch das Knarzen des Stuhls, auf dem ich sitze, das Rascheln der Blätter, auf denen ich schreibe. Das Röcheln der Kaffeemaschine, das über die offene Treppe bis in den ersten Stock zu hören ist und Kaffeeduft nach sich zieht, kündigt eine Pause an – Als sie noch am Leben war, geschah all das zu einer festen Zeit, in einem vorgefassten Ablauf, in den sich jede Handlung, jedes Vorhaben einzupassen hatte.

Die Festgefügtheit ihrer Tage in den späten Jahren steht in Kontrast zu einer Handvoll Fotos aus ihrer Kindheit, auf denen sie mit fragendem Blick in die Kamera schaut. Jedes wurde aufgenommen, um das Bestehen eines Lebensabschnitts festzuhalten, auf den Aufnahmen gibt es kaum Gegenstände um sie herum.

Und dann gibt es vereinzelte Bilder von ihr als junger Frau, die meisten und lebhaftesten davon stammen aus der Anfangszeit mit meinem Vater: Sie machen Ausflüge mit dem VW Käfer, gehen tanzen und Ski fahren. Meine Mutter lacht und macht Faxen – oder zeigt sie sich nur für das Bild so?

Auf die Frage, wie ihr Leben war, bevor sie meinen Vater kennengelernt hat und wir auf die Welt gekommen sind, zuckt sie die Schultern, weiß keine Antwort. Ihre Schilderungen gleichen Bruchstücken, beschreiben ausschnitthaft einzelne Stationen ihres Lebensweges. Manches bringe ich überhaupt nur im Nachhinein und mithilfe von Dokumenten und Briefen in nachvollziehbare Zusammenhänge. Allerdings frage ich mich, ob es wirklich so gewesen sein kann, wie ich nach dem Durchschauen aller Schriftstücke vermute. Ob ich die Geschichten über sie nur erfinde, den Eigenschaften folgend, die ich ihr zuschreibe, indem ich passend erscheinende Bindeglieder hinzufüge, die der Anschaulichkeit dienen – Oder verfehle ich so die Wahrheit erst recht, indem ich die Ereignisse auf eine bestimmte Deutung hin zuspitze?

Was mich nachdenklich und traurig macht, ist für sie nicht weiter bemerkenswert: So war es halt, ich soll doch kein Theater machen! Was sie erzählt, erscheint mir nur angerissen. Wohin mich die losen Fäden ihrer vielen Andeutungen führen werden? Womöglich lässt sie mich an Phantombildern teilhaben, die sie für Erinnerungen hält, die in Wirklichkeit aber trügerisch sind – doch wer sollte das beurteilen? Sie selbst und alle Gewährsmenschen, die ich befragen könnte, gibt es nicht mehr.

Um etwas Mitteilbares zusammenzubringen, bleibt mir eine Schachtel mit Urkunden, Briefen, Protokollen, Ausweisen und Notizen, die sie, solange meine Schwester und ich auf der Welt sind, vergessen zu haben scheint. Wir finden die Schachtel ganz hinten im Schrank, weder versteckt noch verschlossen. All die Jahre mit unseren zaghaft angesetzten Fragen haben wir keinen Versuch unternommen dort nachzuschauen. Habe ich mir womöglich vorgegaukelt, es gäbe keine weiteren Aufzeichnungen? Ich hab doch gewusst, dass sie alles von Wert aufbewahrt, also musste es noch Schriftstücke geben. So sehr ich auch sonst bei allen Unklarheiten nachgehakt habe, bin ich diesem Gedanken nie weiter nachgegangen.

Weil fraglos war, es würde sie quälen, wenn wir ihren Blick in die Vergangenheit lenkten. Immer wieder gibt sie uns zu verstehen, dass sie sich nicht mehr umwenden und zurückschauen will. Die Vergeblichkeit dieses Wunsches hätte sie schon daran erkennen können, dass sie ohnehin keine Nacht mehr zur Ruhe kommt, immer wach liegt, den eigenen Zweifeln ans Messer geliefert, die sie zurückholen wollen. Vielleicht soll sie doch noch einmal nachschauen kommen? Denn solange sie das nicht tut, findet sie sich auch in der Gegenwart nicht richtig ein.

Immer ist ihr daran gelegen, dass sie alles da hat. Für den Fall der Fälle: Den Notfall. Dabei geht es noch nicht einmal so sehr um Nahrungsmittel. Als sie stirbt, finden wir in ihren Schränken unzählige Kämme, Haarbürsten, Nagelscheren, Fönsets, Seifen – Hat sie all diese Sachen angesammelt, um sie zur Hand zu haben, falls sie nicht mehr aus dem Haus käme? Aber aus welchem Grund sollte sie nicht mehr aus dem Haus kommen? Sie muss alles da haben, auch wir Nahestehenden haben uns einzufügen: Bin ich als Kind auch nur eine Minute später zurück als zur vereinbarten Zeit, ist sie ganz außer sich. Als hätten schon Schergen oder der Tod mich geholt.

Erste Jahre

Wie unzählige Menschen ihrer Generation in Mitteleuropa ist sie im Krieg zur Welt gekommen. Sie wird in einem Land geboren, das es nicht mehr gibt, kriegsbedingt wird das Gebiet „dem Feind“ überlassen, der es erobert hat. In diesen ersten Jahre hat sie einen älteren Bruder, der ihr ausgespuckte Erbsenhülsen besorgt, damit sie etwas zu kauen hat. Das hilft gegen den Hunger. Der ältere Bruder tut, was er kann. In ihren Schilderungen ist er ein weiser Beschützer, der sich um sie kümmert. Ein Held, der die eigene Angst überwindet, um ihr zu helfen. Aus den Dokumenten in der Schachtel erfahre ich, dass er nur fünfeinhalb Jahre alt geworden ist.

Es gibt dazu eine Erklärung, die meiner Urgroßmutter vom Suchdienst des Roten Kreuzes überstellt wird, ungefähr 10 Jahre später, zu Protokoll gegeben von der Tochter der ehemaligen Vermieter in Königsberg, wo die Familie meiner Mutter bis Juni 1945 wohnt. Es heißt, meine Großmutter sei mit den zwei Kindern zusammen eingewiesen worden, wohl in das Standortlazarett im gleichen Bezirk, wo zuerst der Bruder und dann die Mutter verstirbt. Meine Mutter, das übrig gebliebene Kind, wird „vom Russen in ein Waisenhaus eingewiesen. Wo die Kinder blieben und ob sie ausgewiesen wurden, entzog sich damals unserer Kenntnis“, setzt die Zeugin hinzu. Einweisen. Ausweisen. Mit schwindenden Kräften und auch weichendem Verstand und Willen gehört die Familie meiner Mutter zu den vielen mageren Gestalten, die ihre Zugehörigkeit zur Welt jener, die menschenwürdig leben, längst verloren haben.

Als Kind weiß ich, dass meine Großmutter schon lange tot ist, als Jugendliche frage ich nach, wann und woran sie gestorben ist: An Hungertyphus, erklärt meine Mutter. Eines Sommer-Sonntagnachmittags glaubt meine Mutter sich zu erinnern: Sie erzählt mit unbewegter Miene am Kaffeetisch, dass ihre Mutter sich zum Sterben auf die Küchenbank gesetzt habe, sie sei entkräftet gewesen, so entkräftet, dass sie dort zur Seite gesunken und dann wohl tot gewesen sei. Für das kleine Mädchen, das meine Mutter ist, stoppt hier die Vorstellungskraft: Die sieche, nicht mehr ansprechbare Mutter gilt ihr als verloren. Die Wucht des ausgesparten Schmerzes trifft mich unvorbereitet und ist kaum zu ertragen, meine Mutter ist peinlich berührt: Dass ich aber auch immer so empfindlich sein muss!

Die weggestorbene Generation

Von ihren Eltern weiß ich nur ganz wenig. Meine Urgroßmutter gibt drei eidesstattliche Erklärungen bei verschiedenen Standesämtern ab, um wenigstens die Geburt ihrer Tochter und des Schwiegersohns, die Eheschließung und auch den Tod ihrer Tochter amtlich besiegelt zu bekommen. Zwei davon werden am 3. Juni 1965 in Berlin (West) offiziell anerkannt, meine Urgroßmutter ist eigens dorthin gereist, denn damals wohnt sie in Hildesheim, einer niedersächsischen Kleinstadt. Im Familienbuch, das sie ausgestellt bekommt, gibt sie zu ihrer Tochter an: „gestorben im Herbst 1944 oder Anfang 1945“. Die Erinnerung verschwimmt, der Faden auch zu ihrem eigenen Leben reißt ab.

Aber das geschieht später. Nach Kriegsende nährt meine Urgroßmutter viele Jahre lang die Hoffnung, ihre Tochter könne noch am Leben sein: Sie schickt unzählige Anfragen an verschiedene Suchdienststellen und Bezirksämter, mit großen Pausen dazwischen. Sie ahnt wohl das Unleugbare. Ihre Schwägerin formuliert es in einem Brief vom Februar 1949: „ (…) und jetzt hast du noch immer keine Ruhe, weil du nichts über (deine Tochter) erfahren kannst. Warum blieb sie bis zuletzt blos in Königsberg? Aus Königsberg und von überall (…) wurden doch damals schon junge Frauen mit Kindern evakuiert. Sicher wollte sie ihres Mannes wegen immer nicht fort, und jetzt wird sie wohl, wenn nicht tot, nach Russland verschleppt sein.

1951 gibt es einen ersten Hinweis vom Suchdienst Hamburg, dass womöglich wenigstens meine Mutter noch lebt, Anschrift und Geburtsdatum stimmen jedoch nicht mit den Angaben der Urgroßmutter zum gesuchten Mädchen überein. Erst 1953 wird nach Rücksprachen der Amtsstellen mit den Pflegeeltern, die meine Mutter aufgenommen haben, klar, dass sie das gesuchte Mädchen ist. Im November schreibt eine Mitarbeiterin des Jugendamts Potsdam, sie habe meine Mutter befragt, die ihr erzählt, „dass sie nichts zu essen hatten und dadurch erst der Bruder und dann die Mutter gestorben sei.“ Wann das war, kann das 12-jährige Mädchen nicht sagen – aber eine zeitliche Verortung würde den Schrecken ja auch nicht lindern.

Auf verschiedenen Zetteln vermerkt meine Urgroßmutter wieder und wieder die Geburtsdaten ihrer Tochter, des Schwiegersohns und der Enkelkinder. Dass außer ihr nur noch meine Mutter am Leben ist, darüber hat sie nun, nach mehreren Jahren bangen Hoffens und Wartens, endlich Gewissheit.

Es gibt ein Hochzeitsfoto meiner Großeltern, beide mit den zeittypisch stillgestellten Gesichtern. Mein Großvater, heißt es, sei der einzige großgewachsene Mann in der Familie, was auf dem Foto nicht zu erkennen ist, aber vielleicht sitzen beide für die Aufnahme. Meine Großmutter hat ein zartes Gesicht, wirkt ein bisschen entrückt, mein Großvater hat etwas Finsteres in der Miene. Meine Mutter berichtet mit Stolz und Respekt von seiner Strenge: Er sei beim Nachhausekommen regelmäßig mit den Fingern über die Oberseite der Schränke gefahren, um zu prüfen, ob ordentlich geputzt wird. Sicher hat sie das nicht selbst erlebt, es ist ihr erzählt worden. Sie ist ihm selbst nur wenige Male begegnet, bei seinen kurzen Heimataufenthalten, bevor er wieder an die Westfront muss, wo er Ende März 1945 stirbt.

Waisenhaus und Adoption

Als meine Mutter ins Waisenhaus kommt, ist sie ungefähr vier Jahre alt und hat nichts als ihren Vornamen dabei. Sie ist gerade von einer schweren Gelbsucht genesen, mutmaßlich unterernährt und durch die Umstände in ihrem Gedeihen eingeschränkt. Sie bekommt ein Geburtsdatum zugeteilt, den Tag der Befreiung der späteren Deutschen Demokratischen Republik, noch sowjetische Besatzungszone. Von der obersten Verwaltungsbehörde des Standortlazaretts, in dem ihre Mutter und ihr Bruder verstorben sind, wird sie zunächst mehrere Hundert Kilometer weiter in ein Kinderheim nach Pinnow an der Ostsee geschickt. Sie bleibt nicht lange, wird wieder mehrere Hundert Kilometer weiter in ein Heim nach Leipzig gebracht und danach in ein Heim nach Altenburg. Ihr einziger Besitz ist ein viel zu großer Schlüpfer, den sie einmal in der Woche zum Waschen hergeben muss. Es gibt ein Spielbrett, das alle Kinder haben wollen, sie ergattert es selten und auch nur, wenn sich jemand von den wenigen Betreuerinnen für sie einsetzt. Kaum vorstellbar ist die stumpfe Langeweile während jener Zeiten, in denen die Kinder sich selbst, der Ungewissheit und den Grausamkeiten überlassen sind, die sie erlitten haben und aneinander ausprobieren.

Sie erzählt, dass die Kinder sich recht nett betragen sollen, wenn Besuch kommt: Begreift sie instinktiv, was Besuch bedeutet? Was geht da vor sich? Sie sperrt ihre Augen und Ohren ganz weit auf, um etwas davon zu verstehen, sich wenigstens ein bisschen auszukennen. Aber es dauert wohl unermesslich lange, bis es auch für sie mit dem Besuch klappt. Der Besuch findet sie reizend und darf sie schließlich mit zu sich nach Hause nehmen. Ihre zukünftigen Pflegeeltern wohnen in Potsdam, wieder ist sie mehrere Stunden zu einem neuen Wohnort unterwegs.

Aber hier wird sie länger bleiben. Gerührt schildert sie ihr erstes Weihnachtsfest: Sie bekommt einen Kinderwagen geschenkt mit einer Puppe und einem Teddybären, die sie fest in ihr Herz schließt. Sie kann gar nicht glauben, dass all die Zuwendung ihr gilt. Ihr Leben lang kann sie nur Weniges annehmen, ohne sich auf der Stelle gezwungen zu fühlen, ihre Eignung dafür zu beweisen. Bei den Pflegeeltern vergisst sie allmählich, dass sie einmal woanders war, ein ganz anderes Leben hatte. Nach ein paar Jahren kommen jedoch Briefe vom Jugendamt, meine Mutter wird befragt, ob sie ihren Geburtstag noch weiß, wie ihre Eltern heißen und ob sie Geschwister hat – Es habe sich jemand gemeldet, die wohl ihre Großmutter sei. Meine Mutter ist nun 12 Jahre alt und hat sich in ihrem neuen Leben eingerichtet. Fürchtet sie sich, womöglich wieder weg zu müssen?

Wer sie ist, wird jetzt neu verhandelt. Für ihre Großmutter ist sie eine arme verlassene Waise, für die Pflegeeltern dagegen das wie ein eigenes Kind geliebte Mädchen, das sich begabt und fleißig zeigt, ihre schrecklichen Erlebnisse offenbar überwunden hat, man merkt ihr keine seelische Beschädigung an. Vielleicht ist sie ein bisschen schüchterner und auch schreckhafter als andere Kinder, einem Mädchen jedoch steht Demut gut an. Meine Mutter trägt lange Zöpfe, die ihr die Pflegeeltern in einer aufwendigen Prozedur jeden Morgen ordentlich flechten – Wehe, sie träumt einmal auf dem Schulweg oder in der Pause und lässt sich von einem Jungen die Zopfschleife wegzupfen, schubst ihn nicht rechtzeitig weg – Dann setzt es zuhause Ohrfeigen. Beim Schubsen jedoch drohen ihr Tritte, mit schmutzigen Sohlen auf ihre schönen weißen Strümpfe. Auch das ist arg und hat Konsequenzen, so drängt sie sich lieber mitten in den Pulk der Mädchen, die am Fährschiff warten, um zur Schule übergesetzt zu werden. Im Winter, wenn die Eisschollen auf dem mehr stehenden als fließenden Gewässer zu dicht geworden sind, kommt ein großer Militär-Lastwagen, der die Schulkinder in einem weiten Bogen über die nächste Brücke zur Schule hin befördert. Sie steigen alle aus, notieren auf ihren Kreidetafeln die Hausaufgaben, die auf der großen Schultafel aufgelistet sind, und werden wieder zurückgefahren. Im Schulgebäude wird nicht geheizt. Wenn der Fluss zufriert, ist es dort zu kalt zum Lernen. (…)